Eine aufregende Woche im Zeichen der Grenzwerte-Debatte liegt hinter uns. Und vor uns Akteuren der institutionellen Wissenschaftskommunikation liegen nun Wochen mit Aufräumarbeiten und der Suche nach Antworten auf die Frage: Wie konnte das passieren? Vor allem aber: Was lernen wir daraus für die Zukunft? – Ich jedoch bedanke mich an dieser Stelle erstmal bei 2000 Leserinnen und Lesern für ihr Interesse an meinem Blogposting „Streit um Grenzwerte: Warum die Wissenschaft schweigt und der Siggener Kreis recht hat“.
Ulrich Schnabel hat den Vorgang im Wissenschaftsteil der heutigen Ausgabe der ZEIT nochmal aufgegriffen („Warum blieben die Experten unsichtbar?“) und startet seine Analyse mit einer Bewertung, die ich auf keinen Fall für übertrieben halte:
„Sie dürfte in die Lehrbücher eingehen – als Beispiel dafür, was bei einem öffentlichen Streit aus Sicht der Wissenschaft alles schief laufen kann. Die Stickoxid-Debatte zeigt, wie ein pensionierter Arzt eine ganze Forschungsdisziplin in die Defensive drängen, etablierte Erkenntnisse als unsicher erscheinen lassen und quasi über Nacht die deutsche Luftreinhaltepolitik ins Wanken bringen kann.“
Auch Schnabel kritisiert, dass die angegriffenen Institutionen viel zu lange gebraucht hätten, um öffentlich Stellung zu nehmen. Mir hatte das betroffene Helmholtz Zentrum München zwei Tage nach Veröffentlichung meines Blogeintrags gemailt: „Uns ist bewusst, dass eine fast einwöchige Wartezeit in der heutigen Medienlage eine lange Zeit ist, dennoch war diese Spanne notwendig, um die internationale Abstimmung zu koordinieren und die aktuellen Diskussionspunkte sauber zu adressieren.“
Weniger Komplexität, mehr Schlagkraft
Ich weiß aus den Gesprächen mit Pressestellen, wie langwierig und umständlich es ist, eine Stellungnahme publikationsreif zu bekommen, inklusive aller Korrekturschleifen, redaktionellen Eingriffe und hierarchisch gestaffelter Vorbehalte und Einschränkungen. So ist das Procedere im Normalfall. Und wie ist es im Krisenfall? Offenbar noch umständlicher! Denn das Helmholtz Zentrum mochte sich nicht allein auf die Expertise im eigenen Haus verlassen – obwohl man doch selbst jene Studie erstellt hatte, die der pensionierte Pneumologe Dieter Köhler und seine Truppe in den Mittelpunkt ihrer Kritik gestellt hatten -, sondern man bestellte sich zur Verstärkung eigener Positionen noch Expertise im Ausland. Komplexität statt Schlagkraft. Das Resultat, wiederum mit Schnabels Worten: „…eine für Laien schwer verständliche Stellungnahme auf der Homepage…“
Es fehlt: ein Masterplan
Ich weiß, dass die Kolleginnen und Kollegen in den betroffenen Pressestellen ein paar extrem ungemütliche Tage hinter sich haben. Deshalb liegt mir nichts ferner, als an ihrem Wirken Kritik zu üben. Es geht um mehr. Nämlich um die Frage, wie sich die Wissenschaft künftig aufstellen will, um populistisch motivierte Attacken zu parieren, die auf eine Erschütterung ihrer Glaubwürdigkeit zielen. Das ist keine Frage des Tagesgeschäfts, sondern der strategischen Weitsicht. Nichts womit man einzelne Hochschulen, Forschungsbereiche oder Außeruniversitäre allein lassen darf, sondern was nach einem Masterplan verlangt. Dieses Mal waren es Stickoxide und Feinstaub. Morgen geht es vielleicht wieder um den anthropogenen Klimawandel. Danach dann um die Frage, warum die Wissenschaft überhaupt öffentliche Gelder in Milliardenhöhe erhält, wenn man (als Systemfremder) gar nicht weiß, wofür sie das Geld ausgibt.
Wer zu langsam reagiert, verliert
Der Populismus hat schlichte Antworten auf jede Frage parat. Auch darin unterscheidet er sich völlig von der Wissenschaft, die nach evidenzbasierter Erkenntnis strebt und Meinungsvielfalt tapfer aushält. Doch in der heutigen medialisierten Debattenkultur bleibt Angegriffenen für eine Gegenwehr wenig Zeit. Wer nicht schnell auf vielen Kanälen Contra gibt, wird nicht gehört. Das erzeugt gewaltigen Anpassungsdruck in einem System, das am liebsten jedes Statement, auch im Krisenfall, erst mal in einen Peer Review -Prozess geben möchte, bevor man mit einer Erklärung in die Öffentlichkeit geht.
Der Wandel muss vielfältig sein
Otmar Wiestler, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, sagt im Artikel von Schnabel, man müsse „schneller sprechfähig werden“. Zweifellos die richtige Folgerung aus dem, was wir in den letzten zwei Wochen erlebt haben. Doch wie geht es nun konkret weiter? Wie wird das System „schneller sprechfähig“, wenn Forscherinnen und Forscher mangels Medientrainings kaum darin geübt sind, in der Öffentlichkeit Stellung zu beziehen? Oder das auch gar nicht wollen? Oder sich nicht trauen, weil sie fürchten, von Fachkolleginnen und –kollegen schief angeguckt zu werden; Öffentlichkeitsarbeit ist nach wie vor keine Beschäftigung, die im Wissenschaftssystem großflächig wertgeschätzt wird.
Zielgruppen besser verstehen
Ich bin sicher, kluge Köpfe in der institutionellen Wissenschafts-PR werden nun Zukunftskonzepte entwickeln, um populistischen Attacken schlagkräftiger und aufmerksamkeitsstärker entgegenzutreten. Um von einem breiten Publikum künftig besser verstanden zu werden, dürfte es sich lohnen, nicht nur auf Plattformen und in den sozialen Medien format- und zielgruppenspezifischer unterwegs zu sein. Es wird die unverzichtbare Reduktion von Komplexität, sein, die den Forscherinnen und Forschern und ihren Führungsebenen die meiste Überwindung abverlangt.
.Mehr Handlungsfreiheit für Pressestellen
Den unvermeidbaren Wandel könnten diese Akteure gewiss ein ordentliches Stück beschleunigen, wenn sie ihren Pressestellen mehr Vertrauen schenkten und Verantwortung für die Krisenkommunikation dorthin delegierten. Damit im Notfall nicht wieder eine Woche vergeht, bevor die interessierte Öffentlichkeit die wasserdicht geprüfte Sicht der Wissenschaft auf strittige Themen kennenlernen darf.
Daran anknüpfend und als Schlusswort nochmal Ulrich Schnabel in der ZEIT:
„Eine Woche ist in der heutigen Erregungsgesellschaft eine Ewigkeit. Wer sich da mit detaillierter Quellenarbeit aufhält, wirkt wie ein Feuerwehrmann, der angesichts eines brennenden Hauses eine penible Aufstellung aller verbauten Holzarten anfordert.“
Vielen Dank für diesen Beitrag. Sie konstatieren das Versagen der Wissenschaftskommunikation – und dennoch gibt es einen Aspekt, den Sie leider nicht einmal berühren: Die Rolle des Journalismus in dieser Debatte. Warum haben ZDF, Bild und andere diesem stümperhaften Aufruf von 100 Ärzten ohne Recherche, ohne Gegenprüfung durchgehen lassen, obwohl die Grenzwerte durch die WHO, EU und D aufgrund zahlreicher Studien festgelegt worden sind?
Mir ist bewusst, dass Grenzwerte eine politische, und nicht nur eine wissenschaftliche Dimension haben. Dennoch: Die Informationen über die Gründe für die Grenzwerte sowie über die wissenschaftlichen Expertisen zu Stickoxiden und Feinstaub sind öffentlich verfügbar – nicht zuletzt auch in Beiträgen des Science Media Centers und vieler Tausend Studien.
Warum legen Sie also nicht auch den Finger in die Wunde des Alarmismus, den Journalisten und ohne Nachfragen, Recherchieren, Gegenprüfen gern verbreiten, um Aufmerksamkeit für das eigene Medium zu gewinnen? Warum nur vom Versagen der Wissenschaftskommunikation (und damit die Wissenschafts-PR meinen) sprechen und nicht vom Versagen des Journalismus?
Glücklicherweise hat Josef Zens in seiner Replik auf Ulrich Schnabel die richtige Antwort gefunden mit seinem „Überdenkt Eure Anspruchhaltung“ https://wijo.wordpress.com
Ein bemerkenswertes Beispiel für journalistische Dickfelligkeit: Schuld ist jemand anderes.
Da wird unreflektiert und unkontroliert jemandem eine Bühne geboten, der mit absoluter Minderheitsmeinung und ohne belastbare Meriten fundierte und begründete Forschung in Bausch und Bogen für falsch erklärt.
Unter vollständiger Missachtung aller Sorgfalts- und Recherchepflichten von Seiten der Journalisten wird dann von ebender so begeistert durch den Dreck gezogene Forschung gefordert, dass sie bitte schön binnen Kurzem zum Redaktionsschluss eine fundierte Gegenmeldung liefern habe, die für noch eine Schlagzeile sorgt.
A sagt
2+2 ist _nicht_ 4!
Wie soll das _fundiert_ widerlegt werden?
Zu sagen „Natürlich ist 2+2=4“ wird als Dirkursverweigerung diffamiert werden.
Zu sagen, dass A schlicht keine Ahnung hat, wird neben dem gleichen Vorwurf auch noch eine Shitstorm über Diskriminierung und Arroganz auslösen (der von unseren Qualitätsmeden lustvoll befeuert würde).
Eine umfassende Darstellung über das Konzept von fest definierten Begriffen, auf die man sich einigen muss, um sinnvoll diskutieren zu können (2 beschreibt eine bestimmte Menge, + eine bestimmte Operation) und dann die Darstellung, wie aus diesen Definitionen jenes Ergebnis folgt — dauert, ist lang, ist komplex und überfordert Journalisten (und die wiederum gehen von sich aus, und folgern dass es dann die Leser überfordert).
Dass der Herr Doktor über die Thematik gar nicht einschlägig publiziert hat? Wird nicht erwähnt, kommt erst später und in meiner Wahrnehmung _nicht_ durch journalistische Recherche heraus.
Dass seine Unterzeichner keine 3% der Vereinsmitglieder ausmachen? Dass also um Gegenzug über 97% dieses Papier für nicht zustimmungsfähig hielten? Egal.
Und dass schliesslich die zugrunde liegende Berechnung _so_ falsch ist, dass sie faktisch die Grenzwerte _bestätigt_? Das ist auch keinem Journalisten aufgefallen.
Die taz hat’s öffentlich gemacht, mit dem Vermerk, dass sie selber erst durch externen Hinweis darauf gekommen ist.
Das ist eine Offenheit, wie ich sie weder von dem Herrn Schnabel noch von DER ZEIT in toto jemals erwarten würde — Selbstkritik gibt es bei DER ZEIT nur in hömöopathischen Dosen und auf Kritik wird aggressiv reagiert.
Eine hystherisch auf Schlagzeilenausstoss fixierte Journaille ruiniert den öffentlichen DIskurs, streitet jede Verantwortung für die Verrohung des Umgangs ab und zeigt bei all ihren Verfehlung auf beliebigen Andere, die Schuld sein müssen.
Nein, die Wissenschaft hat sich hier wenig vorzuwerfen.
Wenn es diese Posse in die Lehrbücher schafft, dann als Spiegelstrich in der Liste der Beispiele, wie sich der Journalismus selbst obsolet gemacht hat.