Streit um Grenzwerte: Warum die Wissenschaft schweigt und der Siggener Kreis recht hat

Der Zeitpunkt war gut gewählt, um sich größtmögliche Aufmerksamkeit zu sichern. Gerade erst hatte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) die Expertinnen und Experten seiner eigenen Arbeitsgruppe „Klimaschutz im Verkehr“ spektakulär diskreditiert: Gegenüber dpa erklärte er, das vorgeschlagene Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen sei gegen jeden Menschenverstand“. Da legt der 70-Jährige Lungenfacharzt, Diplom-Ingenieur und ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie DGP (= Lungenheilkunde), Dieter Köhler, nach. In einer mit seinem Namen versehenen „Stellungnahme“ werden die geltenden Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub scharf attackiert. Besonders im Visier: eine Studie, die das Umweltbundesamt beim Helmholtz Zentrum München in Auftrag gegeben hatte, und die dem Amt seit dem März 2018 dazu dient, die Emissionsgrenzwerte im Straßenverkehr in der Öffentlichkeit zu verteidigen.

Wissenschaftlicher Unfug?

Köhler unterstellt der Expertise einen „systematischen Fehler“, Daten würden zudem „extrem einseitig interpretiert“. Kurzgefasst: Aus Köhlers Sicht sind die Befunde von Helmholtz und Umweltbundesamt wissenschaftlich wertlos und die Grenzwerte für Stickstoffdioxid und Feinstaub unsinnig. Diesem Urteil sollten sich bitte auch die 3800 DGP-Mitglieder per Unterschrift anschließen. Doch weniger als drei Prozent mochten ihrem früheren Cheflobbyisten folgen. (Eine kritische Würdigung der Stellungnahme gibt es bereits bei Wikipedia.)

Im Nu im Rampenlicht

Fassen wir kurz zusammen: Ein seit fast sechs Jahren im Ruhestand befindlicher Mediziner publiziert mit drei Co-Autoren, von denen zwei Ingenieure sind, eine „Stellungnahme“ unter seiner Privatadresse, ohne institutionelles Mandat, auf zwei Seiten ohne Briefkopf; im Grunde nichts weiter als ein Leserbrief. 97 Prozent der Mitglieder seines Fachverbands verweigern ihre Unterschrift. – Und abends ist Köhler im heute journal zugeschaltet, wo er im Gespräch mit Claus Kleber die Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub freundlich lächelnd und unwidersprochen als wissenschaftliche Hysterie abhaken darf. Seither ist Köhler wohl schon in jedem Medium der Republik zu Wort gekommen.

Wissenschaftsjournalisten betreiben Gegenaufklärung

Ich habe nicht vor, das Positionspapier von Köhler & Co in den wirklich relevanten Forschungskontext einzuordnen. Das haben gottlob dazu berufene Wissenschaftsjournalisten längst getan, zum Beispiel Joachim Müller-Jung in der FAZ das Science Media Center in Köln bis hin zu Buzzfeed. Sie haben nachgeholt, was Claus Kleber in seinem TV-Gespräch mit Köhler nicht geleistet hat: Köhler auf Augenhöhe mit Fachexpertise herauszufordern, denn Kleber ist kein Wissenschaftsjournalist.

So haben sich also zum Glück Wissenschaftsjournalistinnen und -journalisten gefunden, die im Nachhinein die Dinge zurechtrückten und versuchten, wozu das Wissenschaftssystem kurzfristig nicht in der Lage war: der interessierten Öffentlichkeit die komplexe Materie näher zu bringen und dabei auch widerstreitende Meinungen innerhalb der Wissenschaft nicht zu verschweigen. Zugleich waren sie es, die die Reputation der Wissenschaft verteidigt haben. Denn das ist die Frage, die mich seit Tagen beschäftigt: Warum nehmen es wissenschaftliche Institutionen widerspruchslos hin, dass ihre Kompetenz und Glaubwürdigkeit von populistischen Politikern, Lobbyverbänden, oberflächlich informierten Medien und profilierungssüchtigen Multiplikatoren im Handstreich demontiert werden?

Das Wissenschaftssystem schweigt

Mit solchen Fragen landen wir zwangsläufig bei dem ebenfalls frisch publizierten, neuesten Papier des Siggener Kreises. Bei der letzten Zusammenkunft dieses Think Tanks von Akteuren aus der Wissenschaftskommunikation im Oktober 2018 ging es, kurz gefasst, darum, wie Wissenschaft ihre Integrität bewahren und der Gesellschaft durch Kommunikation „das nach möglichst objektiven Kriterien jeweils beste verfügbare Wissen über die Welt zur Verfügung“ stellen kann. Weiterhin heißt es: „Wissenschaft „muss auch in der politischen Debatte aktiv sein und Positionen beziehen – (besonders) wenn wissenschaftliche Ergebnisse falsch interpretiert, aus dem Kontext gerissen oder gar missbraucht werden.“

Trifft diese Beschreibung auf die aktuelle Lage zu? Ich finde, ja. Gewiss gehört die leidenschaftliche Kontroverse zum wissenschaftlichen Erkenntnisprozess dazu. Niemand ist im Besitz der einzigen Wahrheit. Aber wenn nur diejenigen in einer Debatte zu hören sind, die am lautesten schreien und die einfachsten Antworten parat haben, dann ist der Wurm drin.

Köhlers Papier spielt Lobbyisten in die Hand

Wenn sich die Wissenschaft vornehm zurückhält, überlässt sie Akteuren das Feld, die wissenschaftliche Befunde aushebeln wollen, um eigene, zumeist politische oder ökonomische Interessen durchzusetzen. Und sie lässt einer Entwicklung freien Lauf, die Partikularinteressen bedient, aber nicht dem Allgemeinwohl dient. So hat Verkehrsminister Scheuer mit Bezug auf Köhlers Papier bereits angekündigt, die Grenzwerte nun auf EU-Ebene in Frage zu stellen (um am langen Ende Dieselfahrverbote zu verhindern). Die Mittelstandvereinigung der Union fordert ein Moratorium für Grenzwerte und Dieselfahrverbote. Die Autoindustrie wird dem streitbaren Pensionär aus der Lungenmedizin Lorbeerkränze flechten. Und die Öffentlichkeit weiß schon lange nicht mehr, wem sie überhaupt noch was glauben soll.

Für das Ansehen der Wissenschaft ist das eine toxische Lage. Nur scheint dies in den Führungsetagen der großen Wissenschaftsorganisationen und –verbände niemanden zu beunruhigen. Bis zum heutigen Tag findet sich auf den Homepages des Umweltbundesamtes und des heftig kritisierten Helmholtz Zentrums in München keine Stellungnahme zu den Vorwürfen Es heißt sogar, dass das Helmholtz Zentrum München Anfragen von Journalisten unbeantwortet zurückgewiesen habe. Krisenkommunikation – und über nichts anderes reden wir hier! – sieht anders aus. (Aktualisierung: Am 30.1. haben Helmholtz Zentrum und Umweltbundesamt jeweils Stellungnahmen publiziert.)

Und so bleibt, wie stets, die Frage: Was tun?

Wird nach den Grenzwerten der Klimawandel abgeschafft?

Ich persönlich wünschte mir, „die Wissenschaft“ hätte ihre Verantwortung als Mitgestalterin der Gesellschaft und deren Zukunft ernster genommen und sich in der Debatte prominent zu Wort gemeldet. Doch darauf ist das System in all seiner Komplexität offenbar gar nicht vorbereitet. Tagesaktuelle Diskurse erfordern eine schnelle Abstimmung von Positionen und eine institutionenübergreifende Verbreitung. Sonst entfalten Stellungnahmen keine Sichtbarkeit. Diesen konzertierten Aktionen stehen aber jede Menge Eigeninteressen und Eigenarten der Institutionen und Verbände entgegen. Kann man sie überwinden?

Ich glaube, es führt daran kein Weg vorbei. Denn Nachrichtenlagen wie die aktuelle werden sich häufen. Der Bedarf an auch für Laien nachvollziehbarem, schnell verfügbarem Orientierungswissen aus der Wissenschaft wird weiter wachsen. Noch leisten Wissenschaftsjournalisten unverzichtbare Aufklärung, doch wie lange noch? Die Kommunikationsverantwortlichen müssen ihre Leitungsebenen viel stärker motivieren, mit dem vielbeschworenen „Dialog auf Augenhöhe“ endlich Ernst zu machen. Und Gräben zwischen Organisationen, Disziplinen, Lehrmeinungen pragmatisch zu überbrücken, wenn es darum geht, mit einem gemeinsamen, kraftvollen öffentlichen Auftritt die Unabhängigkeit und „Wahrhaftigkeit“ von Wissenschaft gegen Meinungsmacher und Realitätsverzerrer zu verteidigen.

Sonst überlassen wir den Manipulatoren und Ideologen das Feld. Und die werden nun, nachdem sie die evidenzbasierte Wissenschaft in der Feinstaub- und Stickoxid-Debatte quasi über Nacht in die Defensive gedrängt haben, mit frischer Zuversicht ein altes Ziel neu in Angriff nehmen: die Entlarvung des anthropogenen Klimawandels als wissenschaftliches Hirngespinst.

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