SPIEGEL blamiert sich mit Social Media-Schelte für @RegSprecher

Im Zuge der Deinstallation des Chefredakteurs Wolfgang Büchner im vergangenen Jahr wurde mir als externem Beobachter nochmal deutlich, dass sich das SPIEGEL-Universum in zwei Sphären teilt, die augenscheinlich wenig Berührungspunkte haben und ganz gewiss keinen Transfer an Know-how: Oben ist Print, unten ist Online. An dieser Hierarchie haben 15 Jahre Medienkonvergenz nichts geändert, zumindest nicht beim SPIEGEL.

Und auch nur vor dem Hintergrund dieses unbeirrbaren gegenseitigen Ignorierens lässt sich meines Erachtens erklären, wie es der Artikel ins Heft geschafft hat (Nr.47 vom 13.11.2015), um den es hier geht: „Revolutionäre Grüße ;-)“ (Seite 42).

Im Vorspann heißt es: „Regierungssprecher Seibert baut die Facebook-Seite des Presseamts zu einer Art Staatsfernsehen aus. Die Opposition zweifelt, ob das erlaubt ist.“

Um eine Pointe gleich vorwegzunehmen: Die Zweifel der Opposition sind natürlich nur vorgeschoben (was soll eine Opposition denn anderes tun, als an der Regierung zu zweifeln?). In Wahrheit ist es der SPIEGEL, der es blöd findet, dass die Journalisten ihr Exklusivrecht auf Informationen verloren haben und auch die Leser sich die Welt nicht mehr nur von SPIEGEL-Leuten erklären lassen wollen.

Zum Kristallisationspunkt dieser ganzen – aus SPIEGEL-Sicht – verhängnisvollen Entwicklung haben sich die Autoren also Steffen Seibert ausgeguckt – den ersten Sprecher einer Bundesregierung, der die Chancen von Social Media begriffen hat und für das einsetzt, wofür er bezahlt wird: Ruhm und Ansehen der Kanzlerin zu mehren.

Offenbar haben aber die SPIEGEL-Autoren ein anderes Bild vom Beruf eines Regierungssprechers. Sie konstatieren „ein ernstes Problem“, nämlich eine Vermengung von „zulässiger Pressearbeit und parteiischer Werbung“. Und verweisen zur Unterfütterung ihrer These auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts – aus dem Jahr 1977 (!), also von vor fast vierzig Jahren, als vermutlich nicht mal SPIEGEL-Redakteure sich ein Internet vorzustellen vermochten, geschweige denn den globalen Siegeszug der sozialen Netzwerke.

Deren Funktionsweise haben sie allerdings bis auf den heutigen Tag nicht begriffen, zumindest nicht die Artikelautoren. Als wäre es ein Sündenregister, listen sie auf, wie Seibert und seine Leute bei Facebook und Twitter unterwegs sind. „Statt nüchtern mitzuteilen, dass die Kanzlerin Staatsgäste getroffen hat“, würde Seibert schrägerweise die Begrüßungskapelle filmen oder die Geschichte „eines schwarz-rot-goldenen Staubwedels“ erzählen.

Seibert poste von Rollbahnen und aus Hotelzimmern, filme den Landeanflug auf Rom und den US-Präsidenten Barack Obama, wie der gerade mit einem Kaffeebecher lässig durch die Hotellobby schlurft und im Vorbeigehen „Good Morning“ in Seiberts Handykamera sagt. „Das Video sahen gut 50 000 Nutzer“, heißt es im Artikel. Und ist, wie alles andere davor auch, offenbar als Schelte gemeint.

Liebe SPIEGEL-Autoren, ich bin kein Mitglied der Regierungsparteien. Trotzdem wünschte ich mir sehr viel mehr Kommunikationskönner vom Format eines Steffen Seibert – gerade im Journalismus! Wer im sozialen Netzwerk auffallen möchte, sollte originell sein, überraschend, authentisch. Natürlich ist Angela Merkel keine Kanzlerin zum Anfassen. Aber dieses Bild muss Seibert der Bevölkerung vermitteln. Videoschnipsel „aus den Hinterzimmern der Macht“ (SPIEGEL) vermitteln den Betrachtern einen Blick hinter die Kulissen und die Illusion, der Kanzlerin nahe zu sein.

Aber davon haben die Autoren keine Ahnung und murren lieber an einer weiteren Schlüsselqualifikation für Social-Media-Könner: der Interaktion über Kommentare. Wie man angesichts von täglich 2500 Kommentaren „mit Störenfrieden“ umgehe, wollen die Autoren von Seibert wissen. Die Nutzer sollten sie „einfach ignorieren“, empfiehlt der, „und räumt damit ein, keine klare Linie im Umgang mit Facebook-Trollen zu haben“ (SPIEGEL).

In Wahrheit folgt Seibert den Gepflogenheiten der meisten Social Media-Moderationen, wo man gewöhnlich auf die Selbstreinigungskräfte innerhalb der Community setzt: „Trolle“ werden von den übrigen Forenbesuchern ignoriert und verlieren rasch die Lust. Löschungen dagegen, wie sie offenbar die SPIEGEL-Autoren von Seiberts Team erwarten, würden Trolle nur als Anstachelung verstehen.

So läuft dieser ganze beklagenswerte Artikel inhaltlich völlig ins Leere und endet als Blamage für das Autoren-Duo – und die SPIEGEL-Redaktion. Ein erschütterndes Zeugnis dafür, wie weit Teile der SPIEGEL-Redaktion noch entfernt sind vom „Neuland“ Internet.

Aber, liebe SPIEGEL-Leute, ich fürchte, Social Media wird bleiben. Deshalb werdet ihr euch an solche Kränkungen gewöhnen müssen, wie ihr sie beispielhaft im Text beschreibt und worin eure ganze Empörung über die Demokratisierung der Meinungsbildung deutlich wird:

„Nach dem G 7-Gipfel sprach Merkel mit dem Facebook-Team, nicht mit einem Sender.“ Und offenbar auch nicht mit dem SPIEGEL.

5 Gedanken zu „SPIEGEL blamiert sich mit Social Media-Schelte für @RegSprecher

  1. JEHOPPE

    Typischer „Netzgemeinde“ rant. In den Social Media gibt es nur „falsch“ und „richtig“. Wobei Printmedien grundsätzlich auf der „falsch“ Seite stehen. Wenn der SPIEGEL also den boulevardesken Storytelling Ansatz vom @regsprecher kritikwürdig und als banalisierung der macht empfindet, dann hat das nicht damit zu tun, dass man diesen Ansatz kontrovers diskutieren kann, sondern ausschließlich damit, dass ein Print Medium „online“ nicht kapiert. Klappe zu, Affe tot. Fehlt nur noch ein Tweet von Thomas Thomas Knüwer zum Untergang der Printmedien. Wann gedenken die Herrschaften eigentlich mal vom hohen Ross zu steigen? Dieser ewige beleidigte duktus des missverstandenen Kreativen ist ausgelutscht, nervt und führt zu nichts.

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  2. Juristin

    Erlaubt ist, was gefällt?
    Wie naiv ist das denn?
    Steffen Seibert ist kein Journalist, das war er mal, das ist er aber nicht mehr. Er ist auch nicht Pressesprecher in der privaten Wirtschaft und verkauft Waschpulver. Da könnte er machen was er will. Er ist Sprecher der Bundesregierung und wird von Steuergeldern bezahlt.

    Es gibt aus gutem Gründen rechtlich einen Unterschied zwischen Parteipropaganda und Informationspolitik. Die Regierung hat die Nutzer der Medien zu unterrichten und nicht Reklame für die CDU zu machen. Die CDU-Reklame muss die CDU selbst bezahlen und als solche kenntlich machen.

    Der Unterschied zwischen Information und Propaganda ist ein wichtiger Unterschied, den das Social Network in der Tat zunehmend einebnet. Die Folgen sehen wir in den Regionen der Welt, in denen die Machthaber sich die Medien und die sozialen Netzwerke unterworfen haben (Ungarn, Russland, China). Staatsmedien manipulieren die öffentliche Meinung und damit die Wahlergebnisse. Das sollte man bei alldem nicht vergessen.

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